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Therapie & Forschung

„Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis Optica Spektrum und MOG-IgG-assoziierte Erkrankungen“

In der neuen aktiv!-Serie erfahren Sie alles über die neue Leitlinie zur Diagnose und Behandlung
der Multiplen Sklerose. Im ersten Teil wird die Bedeutung der Leitlinien verdeutlicht.

Folge 1: Einleitung, Prozessbeschreibung, Geltungsbereich, Highlights der neuen Leitlinien

2020 wurde die Erstellung der neuen DGN-Leitlinie zur Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose und verwandter demyelinisierender Erkrankungen abgeschlossen. Die im Herbst zur öffentlichen Diskussion gestellte Konsultationsfassung der neuen Leitlinie ist auf breites Interesse, viel Zustimmung, aber auch Kritik gestoßen, und die finale Version der Leitlinie wird Ende 2020 / Anfang 2021 erscheinen.

Ziel der in dieser Ausgabe der aktiv! beginnenden Artikelserie ist es, einen Überblick über die neue Leitlinie zu geben. Unter welchen Rahmenbedingungen ist sie entstanden? Welche Leitgedanken liegen ihr zugrunde? Und natürlich: Wie lauten die Kernaussagen?

Aber zunächst: Was ist eine „Leitlinie“?

 Leitlinien sind „systematisch entwickelte Aussagen, die den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiedergeben, um die Entscheidungsfindung von Ärzten und Patienten für eine angemessene Versorgung bei spezifischen Gesundheitsproblemen zu unterstützen.“  So erklärt es die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die seit 1995 die Entwicklung von Leitlinien für die Diagnostik und Therapie durch die deutschen Fachgesellschaften koordiniert. Und weiter: „Leitlinien sind als ‚Handlungs- und Entscheidungskorridore‘ zu verstehen, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss.“ (www.awmf.org/leitlinien/awmf-regelwerk/einfuehrung.html).

Eine Leitlinie ist also eine Empfehlung und Unterstützung, die medizinische Entscheidungen auf dem Stand des Wissens erleichtern soll – aber keine Vorschrift (keine Richtlinie), die jede andere Entscheidung zugunsten des Patienten verunmöglichen würde. Vor diesem Hintergrund sind alle Empfehlungen auch der neuen MS-Leitlinie zu verstehen.

Dies zeigt sich auch in den Formulierungen der Leitlinien-Empfehlungen selbst: Da finden sich kein „muss“ oder „darf nicht“, sondern nur unterschiedlich starke Empfehlungen von „soll / soll nicht“ (starke Empfehlung), über „sollte / sollte nicht“ (Empfehlung) bis zu „kann erwogen / verzichtet werden“ (offene Empfehlung).

Zudem unterscheidet die AWMF unterschiedliche Entwicklungsstufen von Leitlinien (S1 bis S3; siehe Kasten).

Die bis 2017 gültige und zuletzt 2014 aktualisierte Vorgänger-Leitlinie „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose“ war offiziell als S2e-Leitlinie klassifiziert. Tatsächlich wurde aber bei einer 2015 vom Krankheitsbezogenen Kompetenznetzwerk Multiple Sklerose (KKNMS) in Auftrag gegebenen systematischen Qualitätsbewertung deutlich, dass wesentliche Kriterien einer S2e-Leitlinie nicht erfüllt waren.

Auch die nun erstellte neue Leitlinie ist keine vollständig evidenzbasierte S2e-, sondern eine konsensbasierte S2k-Leitlinie. Dies aber auch aus guten Gründen, denn für viele alltagsrelevante Fragen zur Diagnostik und Therapie der MS und verwandter Erkrankungen liegt nur wenig oder nicht ausreichend Wissen (Evidenz) vor. Anstatt diese Fragen in der Leitlinie gar nicht behandeln zu können, erlaubt eine S2k-Leitlinie, auch zu diesen versorgungsrelevanten Bereichen Empfehlungen zu geben.

Zudem sind in der neuen Leitlinie nun zwei wesentliche Qualitätsmerkmale erfüllt, die die vorausgegangene Leitlinie vermissen ließ: die Beteiligung möglichst vieler an der Versorgung von MS-Erkrankten beteiligter Berufsgruppen und Fachgesellschaften und – ganz wesentlich – der Mitarbeit von Patientenvertretern an entscheidender Stelle.

An der Erstellung der neuen Leitlinie waren 23 ExpertInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz beteiligt, die erst nach ausführlicher Prüfung etwaiger Interessenskonflikte (vor allem mit der pharmazeutischen Industrie) zur Leitliniengruppe zugelassen wurden - neben Ärzten und Ärztinnen auch eine Physiotherapeutin, eine Vertreterin der Pflegeberufe und zwei Patientenvertreterinnen mit Bezug zur DMSG. Außer der federführenden DGN waren neun weitere Fachgesellschaften oder Organisationen in die Erstellung der Leitlinie einbezogen.

Das Autorenteam der Leitlinie hatte sich im September 2017 konstituiert. Zur Vorbereitung der nationalen Leitlinie wurde zunächst die zu diesem Zeitpunkt neu erschienene europäische MS-Leitlinie analysiert. Als Ergebnis wurde schnell klar, welche offenen Fragen für die eigenen lokalen Verhältnisse in größerer oder anderer Tiefe zu bearbeiten waren. Schnell war auch die Struktur der neuen Leitlinie festgelegt, die nicht nur die Multiple Sklerose im engeren Sinne, sondern auch verwandte Krankheitsbilder wie die Neuromyelitis optica und die MOG-Antikörper assoziierten Erkrankungen erstmals ausführlich behandelt sollte.

Was ist das Ergebnis?

Die neue Leitlinie richtet sich an Neurologen und Nervenärzte im niedergelassenen und stationären Bereich. Sie gilt für alle Bereiche der MS-Versorgung (ambulant und stationär) und erstreckt sich von der Diagnose über die Immuntherapie bis in die symptomatische Therapie.

Sie teilt sich in fünf große Kapitel, die ganz unterschiedliche, für die tägliche Behandlungspraxis relevante, Themenfelder behandeln:

  • Kapitel A: Diagnose, Schubtherapie und Algorithmen der Immuntherapie der Multiplen Sklerose
  • Kapitel B: Immuntherapeutika, darin eine Beschreibung der Evidenz zu den Einzelsubstanzen
  • Kapitel C: Besondere Situationen, darunter „MS und Schwangerschaft“ und „MS bei Älteren, Kindern und Jugendlichen“
  • Kapitel D: Symptombezogene Therapie
  • Kapitel E: Verwandte Krankheitsbilder: NMOSD und MOG-assoziierte Erkrankungen
Mehr als 200 Empfehlungen

Die Inhalte und Empfehlungen in den einzelnen Kapiteln wurden jeweils von mindestens zwei ExpertInnen vorbereitet, der Gesamtgruppe vorgestellt und entweder in den Treffen des Komitees oder über ein sogenanntes Delphi-Verfahren strukturiert diskutiert und abgestimmt. Der dabei gefundene Konsens bemaß sich am Grad der Zustimmung: bei einem „starken Konsens“ haben mind. 95 Prozent aller stimmberechtigten Experten zugestimmt, bei einem „Konsens“ 75 bis 95 Prozent.

Zu sogenannten Konsensuskonferenzen hat sich die Autorengruppe insgesamt viermal persönlich getroffen und zusätzlich von Juni 2019 bis August 2020 insgesamt 18 online-gestützte Delphi-Abstimmungsrunden durchgeführt. Auf diesem Wege wurden insgesamt mehr als 200 Empfehlungen beschlossen.

Die Highlights der Leitlinie sind dabei:
  • Eine neue Einteilung der MS-Immuntherapeutika in drei Wirksamkeitskategorien löst das bisherige Stufenschema der MS-Therapie ab. Die Kategorisierung orientiert sich an der in den jeweiligen Zulassungsstudien beobachteten Schubratenreduktion.
  • Das alte Stufenschema der Therapie ist verlassen. Als wesentliche Neuerung schlägt die Leitlinie für die einzelnen Wirksamkeitskategorien Einstiegs-, Wechsel- und Ausstiegsszenarien vor und gibt konkrete Empfehlungen, ob und wann welche immunmodulatorische Therapie zu empfehlen ist.
  • Seit 2017 konnten eine Reihe von neu zugelassenen Medikamenten das Behandlungsspektrum für verschiedene MS-Patientengruppen erweitern. Diese werden in den Leitlinien auf dem aktuellen Stand des Wissens diskutiert und für den Einsatz der einzelnen Substanzen konkrete Empfehlungen ausgesprochen.
  • Die große Zahl von Immuntherapeutika erlaubt eine an den Krankheitsverlauf, die Krankheitsaktivität und das individuelle Risikoprofil angepasste Therapie der schubförmig verlaufenden MS.
  • Mit den antiCD20 Antikörpern Ocrelizumab und Rituximab stehen nun auch Medikamente zur Behandlung von Patienten mit einer primär chronisch progredienten MS (PPMS) zur Verfügung. Bei der Anwendung von Rituximab handelt es sich um einen medizinisch zulässigen sogenannten Off-label use.
  • Empfehlungen zur individuellen Immuntherapie bei Kinderwunsch, in der Schwangerschaft und Stillzeit wurden in der Leitlinie aufgenommen bzw. aktualisiert.
  • Auch die Optionen zur symptomatischen Behandlung der MS erhalten in der neuen Leitlinie einen breiten Raum.

Über die konkreten Inhalte und Empfehlungen wird in den nächsten Ausgaben der aktiv! berichtet – in der Ausgabe 01/2021 über „Diagnose und Schubtherapie“ und „Immuntherapie“ der MS.

 

  • S1-Leitlinie: Hier einigt sich eine Expertengruppe in einem informellen Verfahren auf Handlungsempfehlungen – die qualitativ und formal einfachste Form einer Leitlinie.
     
  • S2-Leitlinien: Hier erfolgt die Erstellung strukturiert und nach einem festen Regelwerk. Unterschieden werden:

    - Die S2k-Leitlinie ist eine konsensbasierte Leitlinie, bei der sich ein repräsentatives Gremium mit einem strukturierten Verfahren auf Empfehlungen einigt.

    - Die S2e-Leitlinie ist eine evidenzbasierte Leitlinie, bei der die Empfehlungen auf einer systematischen Suche, Auswahl und Bewertung der veröffentlichten Evidenz beruhen.
     
  • Die S3-Leitlinie ist eine evidenz- und konsensbasierte Leitlinie mit höchsten Ansprüchen an die Evidenzrecherche und -bewertung. Dementsprechend kann eine S3-Leitlinie aber auch nur eine beschränkte Zahl möglichst relevanter Fragestellungen adressieren, die nach einem genau festgelegten Verfahren ausgewählt werden.
Kommentar der Patientenvertreterinnen, die an der Entwicklung der Leitlinie MS mitgearbeitet haben:

„An der neuen MS-Leitlinie waren wir als Patientenvertreterinnen gleichberechtigt beteiligt. Eine unserer Aufgaben war es, Sorge zu tragen, dass die Patientenperspektive grundsätzlich in alle Therapieempfehlungen einfließt. Die neue Leitlinie bezieht somit explizit die Patientenpräferenz mit ein und stärkt die Patientenautonomie. Neben der Immuntherapie lag ein Schwerpunkt unserer Mitarbeit auf der umfangreichen Darstellung von symptomatischen Therapieoptionen.“

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Für das Autorenteam: Prof. Dr. Achim Berthele, Oberarzt der Klinik und Stellvertreter des Klinikdirektors der Neurologischen Klinik der Technischen Universität München. Bild: Privat
Prof. Dr. med. Bernhard Hemmer, Direktor der Neurologischen Klinik der Technischen Universität München, Vorstandsmitglied im Ärztlichen Beirat des DMSGBundesverbandes. Bild: Johannes Kirchherr/DMSG Bundesverband
Dr. med. Edeltraud Faßhauer, Ehrenvorsitzende des Bundesbeirates MS-Erkrankter (BBMSE) der DMSG. Bild: DMSG Bundesverband
Dr. med. Jutta Scheiderbauer. Bild: Privat
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